von Victor Müller-Oppliger
Die Forderung an Schulen, bei den Lernenden Kompetenzen und Einstellungen zu lebenslangem Lernen aufzubauen, verbindet sich mit dem Anspruch an lebenslange »Selbst-Produktion« (BRöCKLING 2007; BRöCKLING/KRAS-MANN/LEMKE 2000) und »Selbstökonomisierung« (VOSS 2000) des Einzelnen in einer Gesellschaft andauernder und sich beschleunigender Veränderungen. In einer zunehmend sich entsolidarisierenden Gesellschaft scheint nur logisch, dass das Individuum darauf vorbereitet wird, seine Potentiale selbstbewusst zu nutzen und die schulische und berufliche Biografie als lebenslangen dynamischen Akt der Selbstkapitalisierung zu verstehen.
Vielerorts reagierte das Schulsystem auf das Phänomen ›Hochbegabung‹ mit der Eingrenzung hoher Begabung auf kognitive Fähigkeiten und mit der Festlegung, dass Anspruch auf Förderung hat, wer einen Intelligenzquotienten von mindestens 130 ausweist. Das Recht auf Förderung wurde damit hierarchisiert.
In dieser Situation stellt sich die Frage, inwieweit die Schule die Herausforderung erfüllt, diese als zukunftsrelevant betrachteten Schlüsselqualifikationen und Einstellungen aufzubauen. Angestoßen wird aber auch das Nachdenken darüber, ob und wie Konzepte der Begabtenförderung die Zielsetzung wahrnehmen, das Individuum auf Selbstgestaltung, Selbstverständnis und Selbststeuerung in sozialen Kontexten vorzubereiten.
Entwicklungslinien der Begabtenförderung
Betrachten wir die Entwicklungslinien der Begabtenförde-rung in den vergangenen 25 Jahren, dann stellen wir fest, dass der Fokus sich über die Zeit immer wieder verändert hat. Im Überblick können fünf Phasen unterschieden wer-den, in denen »Selbstverantwortung« je unterschiedlichen Stellenwert erhielt respektive beanspruchte.
Sensibilisierung
Nach langjähriger Entwicklung der Sonderpädagogik fielen zunehmend Kinder und Jugendliche auf, die trotz hohen Potentials Lern- und Verhaltensprobleme zeigten. Es wurde erkannt, dass gezeigte Schulleistung nicht zwingend den Möglichkeiten der Lernenden entspricht, sondern von wesentlich mehr Faktoren abhängt als etwa deren Intelligenz. Augenscheinlich wurde, dass es Lernende gibt, denen es in normativen Lernsettings und je nach Lernkultur nicht gelingt, ihre Interessen und Fähigkeiten in gezeigte Leis-tung umzusetzen. Seither gilt unbestritten, dass auch über-durchschnittlich Begabte besondere Bedürfnisse haben und angepasste Lernbedingungen notwendig sein können, spezifische Begabungen zu erkennen und angemessen zu fördern. Die Verantwortung für die Förderung von Begabungen liegt – unter diesem Gesichtspunkt – beim Anbieter von Bildung, der garantieren soll, dass alle Lernenden eine für sie optimale (Aus-)Bildung erfahren können.
Regulierung – Ausgrenzung – Delegation
Vielerorts reagierte das Schulsystem auf das Phänomen ›Hochbegabung‹ mit der Eingrenzung hoher Begabung auf kognitive Fähigkeiten und mit der Festlegung, dass Anspruch auf Förderung hat, wer einen Intelligenzquotienten von mindestens 130 ausweist. Das Recht auf Förderung wurde damit hierarchisiert. Sprachliche und mathematische Fähigkeiten, die durch Intelligenztestung nachzuweisen sind, erschienen förderwürdig; andere Bildungsbereiche wie musische, ästhetische oder soziale Fähigkeiten wurden teilweise ausgeschlossen oder zur Privatsache. Mit der Ver-rechtlichung wurde gleichzeitig ein genuin pädagogischer Auftrag der Lehrpersonen geschwächt, alle Begabungen zu erkennen und jeweils entsprechende Fördermaßnahmen zu ergreifen. Hochbegabung wurde zum ›schulpsychologischen‹ resp. ›sonderpädagogischen Fall‹. Die Definitionsmacht, was förderbar sei und wer gefördert werden soll, wurde an die Schulpsychologie delegiert.
Begabung als Produkt herausfordernder Lernprozesse
Aufgrund der Erkenntnisse von Lernpsychologie und Expertiseforschung ist eine einseitige Orientierung an Intelligenztestung und IQ nicht länger haltbar. Hohe Begabung ist nicht als »goldenes Chromosom« (RENZULLI 1978) gegeben und als Testergebnis zu finden. Begabungspotentiale können sich in einem förderlichen soziokulturellen Umfeld und unter günstigen Lern- und Bildungsbedingungen in Hochleistungen transformieren (oder unbeachtet bleiben).
Dabei lassen sich besondere Interessen und herausragende Leistungen in einem an durchschnittlichen Leistungserwartungen orientierten normativen Unterricht weder vorhersagen noch genügend anregen; denn oft entwickeln Schüler ihr Potential erst in herausfordernden Situationen.
EIner formalisierten Abklärungsdiagnostik stehen deshalb Stimulation durch anregende Lernsituationen und eine weniger formale ›Förderung auf Verdacht‹ entgegen, bei der Lernende mit Hinweisen auf Begabungspotentiale probeweise in anspruchsvollere Lernsituationen gebracht werden (z.B. in Begabungsprogramme, höhere Schularten usw.). Die allgemeinbildende Schule wäre dabei gut beraten, sich nicht ausschließlich auf ein festgelegtes Verfahren zur Identifikation bestimmter Begabungen zu beschränken. Vielmehr sollten individuelle Begabungspotentiale in alltäglichen Lernsituationen von Lehrpersonen und Begabungsspezialisten angeregt, erkannt und durch entsprechende Fördermaßnahmen ihrer Realisierung zugeführt werden. Dabei geht es um ein breiteres Begabungsspektrum als nur um kognitive respektive akademische Begabungen.Personalisierung der BegaBungsentwicKlungHochleistungen entstehen nicht nur aufgrund von Potentialen und externalen Bildungsangeboten, sondern vor allem dann, wenn die Person ihre Fähigkeiten erkennt und entscheiden kann, diese selbst zu aktivieren. Persönlichkeitsfaktoren (co-kognitive Kompetenzen) sowie motivati-
39onale und volitionale Faktoren spielen eine zentrale Rolle. Damit gewinnt die Person die Urheberschaft und damit auch einen Teil der Selbstverantwortung über den eigenen Lernprozess zurück, was ein basales Anliegen aktueller Lerntheorien zu selbstgesteuertem Lernen ist. Eine zentrale Position nehmen dabei die Persönlichkeitskompetenzen der Lernenden, deren Selbstkonzept, ihre Einstellungen und Haltungen zu sich selbst, zu anderen, zu den Lernge-genständen und zur Leistung ein. Das ›Selbst‹ entscheidet wesentlich über die Realisierung hoher Begabungen. Be-gabtenförderung beinhaltet deshalb – zusätzlich zur fach-lichen Auseinandersetzung mit Inhalten – den Aufbau von Haltungen, Einstellungen und Selbstpraktiken. Diese ent-wickeln sich einerseits in reflexiver Auseinandersetzung mit den eigenen Lernprozessen und andererseits in persön-lichen Begegnungen, in Lernberatungen, in der Zusammen-arbeit mit Mentoren sowie in der gemeinsamen Praxis in Begabungsdomänen mit Fachpersonen und Experten, die Vorbilder und Rollenmodelle sein können. Wesentliche Konzepte der Hochbegabtenförderung bauen auf Identifi-kation aufgrund faszinierender Begegnungen und auf per-sonaler Förderung durch Mentoren auf (CALLAHAN/DICKSON2008). Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entscheide, ob Potentiale in Hochleistung transformiert werden, letztlich durch die Person selbst getroffen werden (DAMASIO 2013; DECI/RyAN 2004; KUHL/MARTENS 2011; WEIGAND 2011).reflexion und wertedisKursIm Anschluss an die Ansätze der Personalisierung und der Selbstwirksamkeit stellen sich mit Blick auf die Selbstver-antwortung in der Begabtenförderung zwei Fragen: zum einen, ob alle Bevölkerungskreise über dieselben Zugangs-möglichkeiten zur Förderung (auch verdeckter) Begabun-gen verfügen, und zum anderen, wie mit Begabungen verantwortungsvoll umgegangen wird, wie und wozu Bega-bungen eingesetzt werden.Forschungsergebnisse zur Unterrepräsentation von Mäd-chen, fremdsprachigen und jungen Menschen aus bildungs-fernen Familien in Programmen zur Begabungsförderung sind brisant. Sie verweisen darauf, dass nach wie vor nicht für alle Bevölkerungsgruppen dieselben Chancen zur Be-gabungsförderung bestehen. Die Frage nach Selbstbestim-mung und der Übernahme von Selbstverantwortung für die eigene Begabungsentwicklung ist deshalb nicht loslösbar von Fragen der Zugänge und der Selektionsmechanismen zu Programmen höherer (Aus-)Bildung (s. dazu BOURDIEU 2001; BREMER 2007; FOUCAULT 2000; STAMM 2009).Ebenso mögen Beobachtungen zur Werteausrichtung ge-lebter Begabungen in jüngster Zeit beunruhigen. Das Ausei-nanderklaffen von Salären und Arbeitszeiten, hohe Abfin-dungszahlungen trotz missglückter Unternehmensführung, arbeitslose Jugendliche und Studienabgänger oder unver-hältnismäßige Lohndiskrepanzen im Spiegel einer wach-senden Bevölkerungsgruppe sogenannter ›Working Poor‹ sind Zeichen einer Entsolidarisierung der Gesellschaft; Zeichen teils ungenutzter Begabungen eines nicht unbe-trächtlichen Teils der Bevölkerung und teils ethisch frag-würdiger und egozentrischer Nutzung von Begabungen bestimmter Akteure.Von daher scheint nicht unwichtig, dass sich die aktuelle Begabtenforschung erneut mit Themen wie ›Begabung als Soziales Kapital‹ oder Konzepten wie ›Weisheit und Leader-ship‹ auseinandersetzt. Denn: Begabungen können indivi-duelles und soziales Kapital bedeuten. Sie können sowohl missbraucht als auch zu erfüllender Selbstgestaltung und sozialer Mitverantwortung eingesetzt werden. Darin findet sich eine der Begründungslinien zu Schulentwicklungen der Inklusion mit ihrer bewussten Verbindung von indivi-dualisierendem und selbstbezogenem mit sozialem Lernen in einer ungeteilten Lerngemeinschaft und Gesellschaft.VoraussetZungen Zur selbstVerant-wortung und selbststeuerungSelbstverantwortetes und selbstgesteuertes Lernen in der Begabtenförderung geht davon aus, dass die Person ihre Begabungspotentiale erkennt und durch Erziehung und Bildung Möglichkeiten erhält, diese in hohe Leistung zu transformieren. Dies bedingt (Aus-)Bildungssysteme, die sich nicht lediglich an der Erfüllung normativer und curri-cular vorgegebener Leistungsnormen orientieren, sondern auch zu erkennen vermögen, wenn ein Kind oder ein Ju-gendlicher außerordentliche Interessen, hohes Engagement oder besondere Fähigkeiten in spezifischen Begabungsbe-reichen aufweisen. Dabei ist zu beachten, dass Begabungen nicht nur in kognitiven sondern in allen Bildungsbereichen auftreten können (vgl. Multiple Intelligenzen nach GARDNER2000). Dass Lernende Mitverantwortung für ihr Lernen und ihre Begabungsentwicklung übernehmen können bedingt vier Voraussetzungen:Der Wille und die Kompetenz eines Bildungssystems und der Lehrpersonen, Begabungspotentiale Einzelner zu erkennen, Lernstrukturen innerhalb einer Schule, die auch Gelegenheiten zur extraordinären und erweiterten Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten (auch extracurricularen) beinhalten, stärkendifferenzierende Lernangebote und Lernpro-zesse innerhalb des regulären Unterrichts, eine Anerkennungskultur, die herausragende Leistun-gen als erstrebenswert erkennen lässt.